Seit dem 27. Juni ist die dritte und letzte Staffel der deutschen TV-Serie Dark auf Netflix zu sehen. Der Abschluss der Kultserie bringt zwar Licht ins Dunkel des verschlungenen, in den Social Media seit der Ausstrahlung der ersten Staffel im Winter 2017 heftig debattierten Plots. Wer möchte, kann ganze Tage damit verbringen, sich die Verwicklungen in Blogs und Podcasts erklären zu lassen; und tatsächlich lädt das filigran gesponnene Netz aus Bezügen und Spiegelungen zu hermeneutischen Exzessen ein. Es lenkt aber auch von der Frage ab, um die sich in der Serie alles dreht, und vor allem von der verstörenden Antwort, die das Finale liefert. Nicht die schwarzen Löcher und Zeitmaschinen, über die sich Fans und Rezensent*innen den Kopf zerbrechen, noch deren philosophische Implikationen – Stichwort Vorbestimmung und freier Wille – sorgen für den eigentlichen Thrill. Es ist vielmehr die sehr ernst gemeinte Frage, ob es vielleicht doch einen Weg gibt, dem Erwachsenwerden zu entkommen. Und die Antwort, die da lautet, frei nach Nena: Ja, im Sturz durch Zeit und Raum.
Das Leben der Erwachsenen ist ein einziger undurchdringlicher Knäuel aus Egomanie und Verantwortungslosigkeit, Lüge und Betrug. Quasi als Kollateralschaden nehmen sie, egal ob Polizist*in, Krankenschwester oder Psychotherapeut, AKW-Direktor oder Hotelmanagerin, die Zerstörung der Umwelt mitsamt atomarem Super-GAU in Kauf. Gleich die ersten Sequenzen zeichnen ein düsteres Bild des Lebens in der Kleinstadt Winden. Eigentlich wollen alle raus, aber niemand schafft es; Generation für Generation kapituliert vor den selbstgebauten Mauern und Zwängen und dreht sich im Kreis – mag sein, dass alle in Winden schon längst tot sind und es nicht merken. Doch auch hier, wie in vielen der Dystopien, die das letzte Jahrzehnt medial begleitet, kommentiert und atmosphärisch mitgestaltet haben, sind es Jugendliche, die mit ihrer wilden Energie den Ausbruch versuchen.
Sie finden heraus, dass es in der Welt von Dark zwar kein Entkommen gibt aus Konflikten, die schon die Eltern und Grosseltern mit sich herumgeschleppt haben. Dafür können die Grenzen von Raum und Zeit mit viel gutem Willen und noch mehr kriminalistischer, teils auch krimineller, Energie gesprengt werden. Das jugendliche Liebespaar Jonas (Louis Hofmann) und Martha (Lisa Vicari) existiert am Ende nicht mehr in der raumzeitlichen Wirklichkeit, sondern in einer ganz anderen Dimension. Dort aber glücklich wie das Paar im Märchen, denn um zu sterben braucht es Raum und Zeit. Es gelingt den beiden nicht nur, ihre Geschichte mit Tragik à la Romeo und Julia und Schöpfungspathos à la Adam und Eva aufzuladen – es verschlägt sie am Ende der zweiten Staffel nämlich in zwei Parallelwelten –, sondern ein Stück der zurückgelassenen Welt zu reparieren.
Das Faszinierende an der Serie ist nun, dass die hochgradig romantische, in dieser Kurzfassung vielleicht sogar kitschig anmutende Liebesgeschichte von Jonas und Martha – und die Geschichte der Sehnsucht der Jugendlichen nach einer Zukunft in einer weniger kaputten Welt – mit so viel Liebe zur Materialität ebendieser Wirklichkeit erzählt wird, dass die Zuschauer*innen bei aller Düsternis eine ästhetische Glückserfahrung machen mit der Assemblage aus Körpern, Bäumen, alten Papieren, Elektrizität, Regen und Atommüll, welche die Serie sinnlich ins Bild zu setzen weiss.
Der Anfang ist das Ende
Als erste deutsche Original-Netflix-Serie war Dark ein Experiment. Dies umso mehr, als die Showrunner, der Regisseur Baran bo Adar und die Drehbuchautorin Jantje Friese, sich von Anfang an alles erlaubten, von dem man erwarten würde, es sei auf Streaming-Kanälen streng verboten. Dazu gehört der bereits erwähnte ungehörig verwickelte Plot und die Figuren mit ihren ausufernden Stammbäumen, die sich durch ihre Zeitreiseaktivitäten verdoppeln und verdreifachen und sich solange immer wieder selbst begegnen, bis die Zuschauer*innenhirne ganz verknotet sind. Das virtuose Spiel mit Zeit und Raum gipfelt unter anderem darin, dass die Polizistin Charlotte Doppler gleichzeitig Mutter und Tochter einer ihrer Töchter ist. Auch was die endzeitlich-melancholischen Bilder und das Sounddesign angeht, ist Dark keineswegs leicht verdauliche Kost. Vielleicht liegt es daran, dass in Feuilletons und Social Media vor allem über Stammbäume und andere Verästelungen diskutiert wird.
Denn paradoxerweise ist ausgerechnet die Analyse des komplexen Erzählverfahrens das, woran man sich festhalten kann. Nicht zuletzt, weil die Figuren in der Serie es ebenfalls tun. Nachdem in Winden zwei Kinder spurlos verschwunden sind, stellen neben der Polizei auch die Jugendlichen Nachforschungen an. Sie kommen dabei einem Knoten aus Geheimnissen auf die Spur, die mit dem Windener Atomkraftwerk und Dingen tun haben, die ihre Eltern und Grosseltern lieber totgeschwiegen hätten. Und sie entdecken ein Portal, durch das sie in andere Zeiten reisen können. Winden vor 33, vor 66, vor 99 Jahren. Mit dem Totschweigen soll es nun ein Ende haben, und so verkünden die Zeitreisenden in theatral inszenierten Dialogen einander ihre – einigermassen banalen – Erkenntnisse über Raum und Zeit, über schicksalhafte Zwänge und den freien Willen. Die Erklärungen und Kommentare wirken wie ein umgekehrter Verfremdungseffekt, der die Deutung dessen, was passiert, ad absurdum treibt – bis der Tiefsinn sich um ein Haar in Unsinn verwandelt. Sounddesign und Soundtrack übernehmen die Kommentarfunktion, was das innere und äussere Geschehen angeht, während der Dialog zu einem musikalischen Element wird, Atmosphäre schafft und den Rhythmus vorgibt.
Wollen wir in dieser Welt erwachsen werden?
Die Figuren reden immer von Labyrinth, dabei klingt die Serie wie ein Rhizom, ein Labyrinth ohne Anfang und Ende, ohne Minotauros in der Mitte und ohne Ariadnefaden. Die Figuren lösen zwar Rätsel und klären einen Fall auf; vor allem aber lernen sie, in einem System aus Kontingenz zu navigieren. Darin besteht der Schlüssel, der sie aus dem Gefängnis aus leeren Floskeln und beziehungsreicher Details ausbrechen lässt. Sich wiederholende Sätze wie «der Anfang ist das Ende und das Ende ist der Anfang», «unser Wissen ist ein Tropfen in einem Meer des Unwissens», okkulte Zeichen und die Tatsache, dass noch das kleinste Detail – Narben, Muttermale, Kettenanhänger – mit existentieller Bedeutung aufgeladen sei, suggerieren, dass wir es mit der ästhetischen Umsetzung eines verschwörungsideologischen Modells zu tun haben: alles hängt mit allem zusammen, und am Ende setzt sich Teilchen für Teilchen zu einem Puzzle zusammen, in dem die Realität hinter der Realität sichtbar wird.
Doch wie gesagt, das Gegenteil ist der Fall. Lässt man sich ganz auf den Rhythmus der audiovisuellen Bilder ein und folgt man den Denkbewegungen, wie sie in der Montage, im Wechsel von Hell und Dunkel, im Sounddesign zum Ausdruck kommen, so wird schon von Anfang an klar, dass Dark eine Coming-of-Age-Serie ist, die ein Loch in den sich ewig wiederholenden Kreislauf von Geborenwerden, Erwachsenwerden und Sterben sprengt. Das hört sich gewaltsam an und ist es auch, wenn man darüber nachdenkt. Wirklich unheimlich an Dark ist aber, dass sich der Abschied von Jonas und Martha auf eine trashige Weise gleichzeitig berührend und quietschvergnügt anfühlt. Das hat mit der Spannung zwischen ernsthaftem Schauspiel und Space-Opera-Kulisse in der letzten Folge zu tun – vor allem aber mit dem musikalischen roten Faden, der sich durch die ganze Serie zieht: Nenas Hit Irgendwie, irgendwo, irgendwann von 1984. Am Ende der drei Staffeln, wenn der Song zu den Credits zum ersten Mal am Stück zu hören ist – in der Serie selbst wird er immer durch harte Schnitte unterbrochen –, werden die Zuschauer*innen von der plötzlichen Einsicht erfasst, dass Jonas und Martha irgendwie, irgendwo und irgendwann genau das erleben, was der Songtext beschreibt:
Im Sturz durch Raum und Zeit
Richtung Unendlichkeit
fliegen Motten in das Licht, genau wie du und ich
Irgendwie fängt irgendwann irgendwo die Zukunft an
ich warte nicht mehr lang
Liebe wird aus Mut gemacht
denk nicht lange nach
wir fahr’n auf Feuerrädern Richtung Zukunft durch die Nacht
Und wenn man sich das Originalvideo auf Youtube anschaut, mit seinen Spinnweben, dem künstlichen Nebel, Klamotten aus der Verkleidungskiste, Mumien, die aus ihrem ewigen Schlaf erwachen und natürlich Starkregen – dann erscheint die Liebe zur Materialität des Medialen, die Darkso sehr prägt, vor allem als Hommage an die (deutsche) Pop-Geschichte. Vor diesem Hintergrund kann man den radikalen Ausbruch von Jonas und Martha auch als Bekenntnis zu einer Parallelexistenz im Pop-Universum verstehen. Doch auch so lässt sich die Frage, ob denn Erwachsenwerden in dieser Welt wirklich keine Option mehr sei, nicht ganz zum Schweigen bringen.
July 26, 2020 at 10:00AM
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„Dark“. Im Sturz durch Raum und Zeit - Geschichte der Gegenwart
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